Mittwoch, 10. Juli 2019

Ein Niesen


Wie ich aus dem Fenster blickend nichtsnutzigen Gedanken nachhänge, angele ich apathisch eine Pommes nach der anderen aus der auf dem Tisch stehenden Tüte und schiebe sie unentwegt in den Mund. Kurz stoppe ich, drehe eine Pommes in der Hand und betrachte sie. Dabei frage mich, weshalb kalte Pommes einfach unappetitlich schmecken. Zu meinem Ärger entdecke ich zu spät beim Rausangeln einer Serviette aus der To-Go-Tüte, dass das Ketchup-Päckchen sich unter den Servietten versteckt hat. In Gedanken entschuldige ich mich bei der Fast-Food-Bedienung, die ich noch vor 20 Minuten innerlich verflucht habe, in der falschen Annahme, dass sie vergessen hatte, mir Ketchup einzupacken. Mit diesem auch nicht besonders gut schmeckenden Matsch wären die kärglichen Pommes, die mein Mittagessen darstellen, auch kaum aufgepeppter gewesen. Für die wenig Restlichen lohnt es sich nicht mehr, die Ketchup-Tüte aufzureißen, wenn ich mehr als die Hälfte eh wegschmeiße. Da immer schlechtere Zeiten in dervZukunft anbrechen könnten, bei denen ich etwas zähflüssigen Ketchup gebrauchen könnte.
                Apropos zähflüssig: diese Zugfahrt hatte ich mir kurzlebiger oder aufregender vorgestellt. Bäume, Felder, unbekannte Dörfer und unerforschte Städte ziehen an meiner Fensterscheibe meines Abteils vorbei, wohin ich eh niemals möchte. Die Reise wie auch die Zeit vergeht mir seit Monaten viel zu zähflüssig. Irrtümlich nahm ich an, wenn die Stunden eines Tages mit vielen Aufgaben angereichert wird, vergeht er schneller. Arbeiten, Essen gehen, Bücher beenden, Radfahren, Zweitjob, Kino, Verabredung auf ein Bier, Netflix, dann noch mehr Socializing. Je mehr der Tag gefüllt wird mit Erlebnissen und Aufgaben, desto länger erscheint er zu meinem Bedauern. Seit drei Tagen ist Montag erst vorbei, doch es fühlt sich an, als wäre bereits ein neuer Montag angebrochen. Zumindest ist meine Energie, die ich wöchentlich zu leisten vermag, bereits aufgebraucht.
Erlebnis nach Erlebnis verleben, eine Aufgabe nach der anderen abhaken und dem Hedonismus frönen: bis endlich das Alter den Körper zersetzt und er sich in Stille betten kann. Welch Ironie, dass das Leben darin besteht, dem Tod immer näher zu kommen, um das Leben endlich hinter sich zu haben. Das Leben, das ich liebe. Es ermüdet mich und ist dennoch wundervoll – doch es stellt sich die nackte, frierende Frage für was.
 Aus zwei Gründen wende ich mich entnervt vom Fenster ab. Zum ersten, weil diese pseudomäßige Tiefe nach der Sinnsuche des Lebens und meine Gedanken mich selbst mittlerweile langweilen  und zum zweiten - den trivialeren und wichtigeren Grund -  weil die Zugabteiltür von einem Mann mit zwei Koffern hantierend aufgestoßen wird. Im Schlepptau hat er seine telefonierende Frau, die einen kleinen Menschen auf den Sitz gegenüber von mir bugsiert und ihm ein Tablet in die Hand drückt. Das Kindchenschema mit den großen Augen, den Pausbäckchen und dem kinnlangen blonden Haaren täuscht nicht darüber hinweg, dass das Kind der Kategorie Kackbratze zugehörig ist.
Da ich mir bereits das Szenario über eine potenzielles Willkommen-in-meinem-wundervollen-Zugabteil-Gesprächs schwarzmalerisch ausskizziert habe und mir nichts banaleres einfällt, hake ich die Perspektive nach einem Wir-sitzen-im-gleichen-Zugabteil-lasst-uns-Zug-Smalltalk-Freunde werden schnell ab. Es vergehen zehn zwar gesprächslose, aber keinesfalls ruhige Minuten. Ich muss mir eingestehen, dass meine ehemals stille, einsame Abteilinsel jenseits des bunten Treibens eines Intercitys sich in eine absurde Reizüberflutung gewandelt hat.
Nicht zum ersten Mal verfluche ich mich, dass ich das Aufladekabel für meine Kopfhörer in meinem Rucksack verloren habe und generelle Faulheit mich davon abhält im Zugabteil meine Habseligkeiten zu verteilen, um das Kabel ruhmvoll zu finden und die Geräuschkulisse, die sich mir bietet, auszublenden. So sitzen die Kopfhörerkissen auf den Ohren, um zumindest den Krach auszublenden. Es gelingt so semi-gut und ich fasse den Entschluss, wenn die neuen Zugfahrtbegleitungsgäste mich schon stören, sollen sie mich nun doch unterhalten. Mit dem Versuch nicht allzu offensichtlich zu starren, begutachte ich also meine neuen, zufälligen Reisebegleiter. Die etwas abgezehrte Mutter mit dem allzu perfekten Make-Up hackt seitdem sie sich auf dem Sitz niedergelassen hat auf ihren Laptop herum, während sie mit ihrem Arbeitgeber telefoniert. Irgendwie erscheint mir ihr Outfit etwas zu förmlich für eine familiäre Zugfahrt, aber es passt zu dem Telefonat, das sie führt, in dem es durchgängig um sehr betont wichtige Dinge geht, die sie vor ihrem Urlaub noch erledigt wissen möchte. Der arme Gesprächspartner, der am anderen Ende des Telefons mit Aufgaben zugeschüttet wird, sagt anscheinend nie etwas, sonst würde die Dame ja mal Luft holen. Der Vater hingegen hantiert nach wie vor mit den Koffern umher und testet unterschiedliche Verstaumöglichkeiten bis seine Frau ihr Telefonat kurz unterbricht, ihn unflätig ankeift, ob Monsieur nun endlich die Koffer einfach auf die Gepäckablage legen und sich auf seine vier Buchstaben setzen könne. Resigniert tut er, wie ihm geheißen. Er wuchtet die Koffer hinauf und zupft an seinem hochgerutschten T-Shirt umher, damit es seine kleine haarige Kugel von Bauch wieder bedeckt. Es scheint eine routinierte Geste zu sein, denn an den beiden Stellen, wo er das Shirt hinunterzieht, ist es bereits ausgeleiert. Wie sein Kind vertieft er sich danach dank elektronischen Geräts in eine Spielparallelwelt, und flucht nur noch ab und zu leise vor sich her, wenn ihm etwas nicht gelingt.
                Ich bin in der Absicht mich dem Spross der Familie zuzuwenden, um zu sehen, was das Kind so treibt. Akustisch kann das Tablet von Kackbratze als am lautesten tituliert werden, das fröhlich mit 8 Bit Musik vor sich hindudelt. Doch schon bevor ich ihn – oder sie - ansehe, merke ich schon wie der Blick des Kindes auf mir ruht. Beunruhigend, dieses kindliche Starren. Ich versuche genauso eisern zurückzustarren, in der Hoffnung, dass es dann lieber aus dem Fenster blicken möchte. Ich halte es nicht durch, zu schnell wird mir das stetige Angeschaut werden unangenehm. Ich schaue aus dem Fenster, auf den Tisch zwischen mir und dem Kind und dann wieder in Kackbratzes Gesicht, das nach wie vor an mir haftet. Angestrengt versuche ich nun mürrisch und furchteinflößend zurückzustarren, auch wenn mir nicht wirklich bewusst ist, wie ich mein Gesicht verzerren müsste, damit es ein wenig einschüchternd wirkt. Die erhoffte Reaktion, dass es nun endlich wieder irgendwo anders hinstarrt, bleibt aus.  Zu meinem Ärger spüre ich, wie mich mehrmals unter dem Tisch etwas gegen mein Schienbein dotzt. Hat sich ja richtig gelohnt mein Gesicht mit der Grimasse des Grauens zu verunstalten, eher muss es erbärmlich gewirkt haben, wenn das Kind sich aufgefordert gefühlt hat, mich zu treten.
                „Ähm, du weißt schon, dass du eben dreimal gegen mein Bein getreten hast. Wäre cool, wenn du damit aufhören könntest.“ Als Antwort erhalte ich einen noch festeren Tritt gegen mein Schienbein und ein schelmisches Grinsen macht sich in dem Engelsgesicht breit, das gepaart ist mit einem teuflischen Glitzern in den Augen. Der kleine Körper spannt sich ein weiteres Mal an, doch diesmal bin ich auf den Tritt vorbereitet und wehre ihn erfolgreich mit dem Fuß ab. Ich triumphiere über den kleinen Sieg gegen den winzigen Menschen, der womöglich 25 Jahre weniger Lebenserfahrung als ich hat. Um gebührend mein erfolgreiches Abwehrmanöver zu zelebrieren, strecke ich zusätzlich die Zunge raus. Dann sondieren mein neuer Feind und ich gleichzeitig das Abteil, ob unser kleiner Machtkampf Aufmerksamkeit bei seinen Eltern erregt hat. Fehlanzeige – nach wie vor sind die Eltern noch immer mit sich selbst beschäftigt. Ich wähne mich in Sicherheit und gehe zum Angriff über und verteile auch einen Tritt.
                Dann kommt der Moment, in der die Situation eskaliert. Beide Parteien haben da etwas übertrieben gehandelt, dennoch bin ich beeindruckt von dem Einfallsreichtum der Kackbratze. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass nicht ich auf diese Idee gekommen bin, die mich dann unschuldig aussehen gelassen hätte: denn Kackbratze wendet sich dem Fenster zu und schaut konzentriert direkt in die Sonne. Zunächst bin ich verwirrt, aber dann realisiere ich, dass sich Kackbratzes Nasenflügel sich flatternd auf und ab bewegen. Bevor ich realisiere, dass diese Ausgeburt der Hölle ein Niesen herbeizwingt, sind meine restlichen Pommes von Kinderrotz bedeckt.
                Automatisch greife ich zu der Tüte Ketchup, die auf dem Tisch lag, reiße sie auf und balle die Hand mit dem Ketchup mit aller Kraft zusammen und spritze die roten Soße in das Kindergesicht. Ein entsetzter Schrei von rechts macht mich darauf aufmerksam, dass meine letzte Aktion nicht unbeobachtet geblieben ist. Die Zornesröte steigt in das Gesicht der Mutter, die nun versucht ihren Telefonpartner abzuwimmeln. Mit einem verstohlenen Blick zu seinen Eltern fängt Kackbratze wie auf Kommando an zu heulen.
                „Was fällt Ihnen ein?!“, donnert der Vater. „Augustina, geht es dir gut?“ Ernsthaft, Kackbratzenrotzlöffel heißt Augustina?
                „Ihr Kind hat mich getreten und dann absichtlich auf meine Pommes gerotzt! Sie hat es verdient!“, versuche ich mich zu wehren.
                Kackbratze stammelt vor sich hin, dass sie gar nichts gemacht habe und die böse Frau sie einfach angegriffen habe. Ihre Mutter kramt ein Taschentuch heraus und versucht das Tränen-Ketchup-Gemisch aus dem Gesicht wischen.
                „Da fällt Ihnen nichts besseres ein sie mit Ketchup einzusauen?“
Nun, da hat der Vater nicht ganz Unrecht. „Wenn Sie mich so fragen: Für mich war es die einzig wahre Lösung. Wenn wir ehrlich sind, der Ketchup betont ihre Augen, in der das Höllenfeuer lodert. Also alles halb so schlimm. Mir kommt es so vor, dass wir da jedoch keinen wirklichen Konsens erreichen werden.“
                „Wie Recht sie damit haben. Sie – Sie...“ Ich merke, dass beide Eltern noch viel zu schockiert über meine Handlung sind und nutze die allgemeine Verwirrung meinen Kram hastig zusammen zu packen und schnappe mir meinen Rucksack. Leider muss ich an beiden Elternteile vorbei. Da krallt sich der Vater in meinen Oberarm fest.
                „Sie bleiben schön hier. Das war ein tätlicher Angriff auf meine Tochter, wir werden auf den Schaffner warten, der wird die Polizei verständigen.“
                „Lassen Sie mich los, was fällt Ihnen ein? Sie glauben doch nicht wirklich, dass die Polizei sich mit einem solchen Quatsch aufhält?“
                „Die Entscheidung können Sie der Polizei überlassen, ob das Kindesmisshandlung war.“ Ich seufze und mache das einzige, was mir in diesem Moment richtig erscheint. Mit einem bestimmt sehr grazilen Hechtsprung reiße ich mich los, öffne blitzschnell die Abteiltür, stolpere hinaus und renne den Gang entlang. Zu meinem Entsetzen sehe ich beim Zurückblicken, dass der Vater mir dicht auf den Fersen ist. Ein Waggonwechsel wird mich nicht retten und zu meinem Glücke bemerke ich, dass der Zug langsamer wird. Ich dürfte relativ viel gutes Karma eingesammelt haben, wenn das Universum gerade entscheidet, dass der ICE just in diesem Moment in einen Bahnhof einrollen möchte. Rennend quetsche und stolpere ich durch die engen Gänge der Waggons an den anderen Passagieren entlang. Verfolgt werde ich mit den Rufen „Halten Sie die Frau fest.“ Niemand der anderen Zuggäste ist geistesgegenwärtig genug dieser Aufforderung nachzukommen.
                Ich erreiche die letzte Waggontür, die mich zum Gang bringt, wo die Ausstiegsmöglichkeiten sind. Ich drücke vom Adrenalin aufgepeitscht viele Male auf den Knopf, um die Tür zu öffnen. Endlich entschließt sich die Tür sich zu öffnen und ich bin auf dem Bahnsteig. Ohne zurückzublicken haste ich in das Getümmel des Bahnhofs und verschwinde in der Masse.

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