Wie
ich aus dem Fenster blickend nichtsnutzigen Gedanken nachhänge, angele ich
apathisch eine Pommes nach der anderen aus der auf dem Tisch stehenden Tüte und
schiebe sie unentwegt in den Mund. Kurz stoppe ich, drehe eine Pommes in der
Hand und betrachte sie. Dabei frage mich, weshalb kalte Pommes einfach
unappetitlich schmecken. Zu meinem Ärger entdecke ich zu spät beim Rausangeln
einer Serviette aus der To-Go-Tüte, dass das Ketchup-Päckchen sich unter den
Servietten versteckt hat. In Gedanken entschuldige ich mich bei der
Fast-Food-Bedienung, die ich noch vor 20 Minuten innerlich verflucht habe, in
der falschen Annahme, dass sie vergessen hatte, mir Ketchup einzupacken. Mit
diesem auch nicht besonders gut schmeckenden Matsch wären die kärglichen
Pommes, die mein Mittagessen darstellen, auch kaum aufgepeppter gewesen. Für
die wenig Restlichen lohnt es sich nicht mehr, die Ketchup-Tüte aufzureißen,
wenn ich mehr als die Hälfte eh wegschmeiße. Da immer schlechtere Zeiten in dervZukunft anbrechen könnten, bei denen ich etwas zähflüssigen Ketchup gebrauchen könnte.
Apropos zähflüssig: diese Zugfahrt
hatte ich mir kurzlebiger oder aufregender vorgestellt. Bäume, Felder, unbekannte
Dörfer und unerforschte Städte ziehen an meiner Fensterscheibe meines Abteils
vorbei, wohin ich eh niemals möchte. Die Reise wie auch die Zeit vergeht mir
seit Monaten viel zu zähflüssig. Irrtümlich nahm ich an, wenn die Stunden eines
Tages mit vielen Aufgaben angereichert wird, vergeht er schneller. Arbeiten,
Essen gehen, Bücher beenden, Radfahren, Zweitjob, Kino, Verabredung auf ein
Bier, Netflix, dann noch mehr Socializing. Je mehr der Tag gefüllt wird mit
Erlebnissen und Aufgaben, desto länger erscheint er zu meinem Bedauern. Seit
drei Tagen ist Montag erst vorbei, doch es fühlt sich an, als wäre bereits ein
neuer Montag angebrochen. Zumindest ist meine Energie, die ich wöchentlich zu leisten vermag, bereits aufgebraucht.
Erlebnis nach Erlebnis verleben, eine Aufgabe nach der
anderen abhaken und dem Hedonismus frönen: bis endlich das Alter den Körper
zersetzt und er sich in Stille betten kann. Welch Ironie, dass das Leben darin
besteht, dem Tod immer näher zu kommen, um das Leben endlich hinter sich zu
haben. Das Leben, das ich liebe. Es ermüdet mich und ist dennoch wundervoll –
doch es stellt sich die nackte, frierende Frage für was.
Aus zwei Gründen wende
ich mich entnervt vom Fenster ab. Zum ersten, weil diese pseudomäßige Tiefe nach der Sinnsuche des Lebens und meine Gedanken mich selbst
mittlerweile langweilen und zum zweiten - den trivialeren
und wichtigeren Grund - weil die Zugabteiltür
von einem Mann mit zwei Koffern hantierend aufgestoßen wird. Im Schlepptau hat
er seine telefonierende Frau, die einen kleinen Menschen auf den Sitz gegenüber
von mir bugsiert und ihm ein Tablet in die Hand drückt. Das Kindchenschema mit
den großen Augen, den Pausbäckchen und dem kinnlangen blonden Haaren täuscht
nicht darüber hinweg, dass das Kind der Kategorie Kackbratze zugehörig ist.
Da ich mir bereits das Szenario über eine potenzielles Willkommen-in-meinem-wundervollen-Zugabteil-Gesprächs
schwarzmalerisch ausskizziert habe und mir nichts banaleres einfällt, hake ich
die Perspektive nach einem Wir-sitzen-im-gleichen-Zugabteil-lasst-uns-Zug-Smalltalk-Freunde
werden schnell ab. Es vergehen zehn zwar gesprächslose, aber keinesfalls ruhige
Minuten. Ich muss mir eingestehen, dass meine ehemals stille, einsame
Abteilinsel jenseits des bunten Treibens eines Intercitys sich in eine absurde
Reizüberflutung gewandelt hat.
Nicht zum ersten Mal verfluche ich mich, dass ich das Aufladekabel
für meine Kopfhörer in meinem Rucksack verloren habe und generelle Faulheit
mich davon abhält im Zugabteil meine Habseligkeiten zu verteilen, um das Kabel
ruhmvoll zu finden und die Geräuschkulisse, die sich mir bietet, auszublenden. So
sitzen die Kopfhörerkissen auf den Ohren, um zumindest den Krach auszublenden. Es
gelingt so semi-gut und ich fasse den Entschluss, wenn die neuen
Zugfahrtbegleitungsgäste mich schon stören, sollen sie mich nun doch
unterhalten. Mit dem Versuch nicht allzu offensichtlich zu starren, begutachte
ich also meine neuen, zufälligen Reisebegleiter. Die etwas abgezehrte Mutter
mit dem allzu perfekten Make-Up hackt seitdem sie sich auf dem Sitz
niedergelassen hat auf ihren Laptop herum, während sie mit ihrem Arbeitgeber
telefoniert. Irgendwie erscheint mir ihr Outfit etwas zu förmlich für eine
familiäre Zugfahrt, aber es passt zu dem Telefonat, das sie führt, in dem es
durchgängig um sehr betont wichtige Dinge geht, die sie vor ihrem Urlaub noch
erledigt wissen möchte. Der arme Gesprächspartner, der am anderen Ende des
Telefons mit Aufgaben zugeschüttet wird, sagt anscheinend nie etwas, sonst
würde die Dame ja mal Luft holen. Der Vater hingegen hantiert nach wie vor mit
den Koffern umher und testet unterschiedliche Verstaumöglichkeiten bis seine
Frau ihr Telefonat kurz unterbricht, ihn unflätig ankeift, ob Monsieur nun
endlich die Koffer einfach auf die Gepäckablage legen und sich auf seine vier
Buchstaben setzen könne. Resigniert tut er, wie ihm geheißen. Er wuchtet die
Koffer hinauf und zupft an seinem hochgerutschten T-Shirt umher, damit es seine
kleine haarige Kugel von Bauch wieder bedeckt. Es scheint eine routinierte Geste
zu sein, denn an den beiden Stellen, wo er das Shirt hinunterzieht, ist es
bereits ausgeleiert. Wie sein Kind vertieft er sich danach dank elektronischen
Geräts in eine Spielparallelwelt, und flucht nur noch ab und zu leise vor sich
her, wenn ihm etwas nicht gelingt.
Ich bin in der Absicht mich dem
Spross der Familie zuzuwenden, um zu sehen, was das Kind so treibt. Akustisch
kann das Tablet von Kackbratze als am lautesten tituliert werden, das fröhlich mit
8 Bit Musik vor sich hindudelt. Doch schon bevor ich ihn – oder sie - ansehe,
merke ich schon wie der Blick des Kindes auf mir ruht. Beunruhigend, dieses
kindliche Starren. Ich versuche genauso eisern zurückzustarren, in der
Hoffnung, dass es dann lieber aus dem Fenster blicken möchte. Ich halte es
nicht durch, zu schnell wird mir das stetige Angeschaut werden unangenehm. Ich
schaue aus dem Fenster, auf den Tisch zwischen mir und dem Kind und dann wieder
in Kackbratzes Gesicht, das nach wie vor an mir haftet. Angestrengt versuche
ich nun mürrisch und furchteinflößend zurückzustarren, auch wenn mir nicht
wirklich bewusst ist, wie ich mein Gesicht verzerren müsste, damit es ein wenig
einschüchternd wirkt. Die erhoffte Reaktion, dass es nun endlich wieder
irgendwo anders hinstarrt, bleibt aus.
Zu meinem Ärger spüre ich, wie mich mehrmals unter dem Tisch etwas gegen
mein Schienbein dotzt. Hat sich ja richtig gelohnt mein Gesicht mit der
Grimasse des Grauens zu verunstalten, eher muss es erbärmlich gewirkt haben,
wenn das Kind sich aufgefordert gefühlt hat, mich zu treten.
„Ähm, du weißt schon, dass du
eben dreimal gegen mein Bein getreten hast. Wäre cool, wenn du damit aufhören
könntest.“ Als Antwort erhalte ich einen noch festeren Tritt gegen mein
Schienbein und ein schelmisches Grinsen macht sich in dem Engelsgesicht breit,
das gepaart ist mit einem teuflischen Glitzern in den Augen. Der kleine Körper
spannt sich ein weiteres Mal an, doch diesmal bin ich auf den Tritt vorbereitet
und wehre ihn erfolgreich mit dem Fuß ab. Ich triumphiere über den kleinen Sieg
gegen den winzigen Menschen, der womöglich 25 Jahre weniger Lebenserfahrung als
ich hat. Um gebührend mein erfolgreiches Abwehrmanöver zu zelebrieren, strecke
ich zusätzlich die Zunge raus. Dann sondieren mein neuer Feind und ich
gleichzeitig das Abteil, ob unser kleiner Machtkampf Aufmerksamkeit bei seinen
Eltern erregt hat. Fehlanzeige – nach wie vor sind die Eltern noch immer mit
sich selbst beschäftigt. Ich wähne mich in Sicherheit und gehe zum Angriff über
und verteile auch einen Tritt.
Dann kommt der Moment, in der
die Situation eskaliert. Beide Parteien haben da etwas übertrieben gehandelt,
dennoch bin ich beeindruckt von dem Einfallsreichtum der Kackbratze. Im
Nachhinein ärgere ich mich, dass nicht ich auf diese Idee gekommen bin, die
mich dann unschuldig aussehen gelassen hätte: denn Kackbratze wendet sich dem
Fenster zu und schaut konzentriert direkt in die Sonne. Zunächst bin ich
verwirrt, aber dann realisiere ich, dass sich Kackbratzes Nasenflügel sich
flatternd auf und ab bewegen. Bevor ich realisiere, dass diese Ausgeburt der
Hölle ein Niesen herbeizwingt, sind meine restlichen Pommes von Kinderrotz
bedeckt.
Automatisch greife ich zu der
Tüte Ketchup, die auf dem Tisch lag, reiße sie auf und balle die Hand mit dem
Ketchup mit aller Kraft zusammen und spritze die roten Soße in das
Kindergesicht. Ein entsetzter Schrei von rechts macht mich darauf aufmerksam,
dass meine letzte Aktion nicht unbeobachtet geblieben ist. Die Zornesröte
steigt in das Gesicht der Mutter, die nun versucht ihren Telefonpartner
abzuwimmeln. Mit einem verstohlenen Blick zu seinen Eltern fängt Kackbratze wie
auf Kommando an zu heulen.
„Was fällt Ihnen ein?!“, donnert
der Vater. „Augustina, geht es dir gut?“ Ernsthaft, Kackbratzenrotzlöffel heißt
Augustina?
„Ihr Kind hat mich getreten und
dann absichtlich auf meine Pommes gerotzt! Sie hat es verdient!“, versuche ich
mich zu wehren.
Kackbratze stammelt vor sich
hin, dass sie gar nichts gemacht habe und die böse Frau sie einfach angegriffen
habe. Ihre Mutter kramt ein Taschentuch heraus und versucht das
Tränen-Ketchup-Gemisch aus dem Gesicht wischen.
„Da fällt Ihnen nichts besseres
ein sie mit Ketchup einzusauen?“
Nun,
da hat der Vater nicht ganz Unrecht. „Wenn Sie mich so fragen: Für mich war es
die einzig wahre Lösung. Wenn wir ehrlich sind, der Ketchup betont ihre Augen,
in der das Höllenfeuer lodert. Also alles halb so schlimm. Mir kommt es so vor,
dass wir da jedoch keinen wirklichen Konsens erreichen werden.“
„Wie Recht sie damit haben. Sie
– Sie...“ Ich merke, dass beide Eltern noch viel zu schockiert über meine
Handlung sind und nutze die allgemeine Verwirrung meinen Kram hastig zusammen
zu packen und schnappe mir meinen Rucksack. Leider muss ich an beiden
Elternteile vorbei. Da krallt sich der Vater in meinen Oberarm fest.
„Sie bleiben schön hier. Das war
ein tätlicher Angriff auf meine Tochter, wir werden auf den Schaffner warten,
der wird die Polizei verständigen.“
„Lassen Sie mich los, was fällt
Ihnen ein? Sie glauben doch nicht wirklich, dass die Polizei sich mit einem
solchen Quatsch aufhält?“
„Die Entscheidung können Sie der
Polizei überlassen, ob das Kindesmisshandlung war.“ Ich seufze und mache das
einzige, was mir in diesem Moment richtig erscheint. Mit einem bestimmt sehr
grazilen Hechtsprung reiße ich mich los, öffne blitzschnell die Abteiltür,
stolpere hinaus und renne den Gang entlang. Zu meinem Entsetzen sehe ich beim
Zurückblicken, dass der Vater mir dicht auf den Fersen ist. Ein Waggonwechsel
wird mich nicht retten und zu meinem Glücke bemerke ich, dass der Zug langsamer
wird. Ich dürfte relativ viel gutes Karma eingesammelt haben, wenn das
Universum gerade entscheidet, dass der ICE just in diesem Moment in einen
Bahnhof einrollen möchte. Rennend quetsche und stolpere ich durch die engen
Gänge der Waggons an den anderen Passagieren entlang. Verfolgt werde ich mit
den Rufen „Halten Sie die Frau fest.“ Niemand der anderen Zuggäste ist geistesgegenwärtig
genug dieser Aufforderung nachzukommen.
Ich erreiche die letzte
Waggontür, die mich zum Gang bringt, wo die Ausstiegsmöglichkeiten sind. Ich
drücke vom Adrenalin aufgepeitscht viele Male auf den Knopf, um die Tür zu
öffnen. Endlich entschließt sich die Tür sich zu öffnen und ich bin auf dem
Bahnsteig. Ohne zurückzublicken haste ich in das Getümmel des Bahnhofs und
verschwinde in der Masse.
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